Ich sitze in meinem neuen „Wohnzimmer“, wie ich es liebevoll nenne: das Café der Kunsthalle in Schwäbisch Hall. Vor mir stehen drei Dinge: ein guter Kaffee, der Blick aus der Fensterfront auf die Giebel der Stadt – und eine Runde durch die aktuelle Ausstellung. „Wasser, Wind und Wolken“ lautet ihr Titel. 2000 Quadratmetern, an die hundert Gemälde und Skulpturen.Was wird mich heute ansprechen? An was werde ich vorüber gehen, wo werde ich verweilen? Ja, eine gewisse Vorfreude ist in mir. Die Vorfreude, mir vieles vorzuenthalten und alles zu bekommen. Eine große Ausstellung. Dabei könnte ich auf fast alle Kunstwerke gut verzichten. Warum? Das erkläre ich Ihnen gleich.

Im Sehstress

Das Dalí-Museum Figueras, die großartige Matisse-Ausstellung damals in Basel, die Neue und Alte Pinakothek in München Kunstausstellungen zogen mich schon immer in den Bann. Wenn ich mich aber genauer an meine früheren Ausstellungsbesuche erinnere, waren sie – ganz ehrlich – richtig stressig. Ich lief wie eine Getriebene von Leinwand zu Leinwand, von einer Skulptur zu nächsten. „Lauf weiter, sonst siehst du gar nicht alles!“ So meine innere Stimme. Heute weiß ich: Sie hatte unrecht.

Das traurige Ergebnis: Ich blieb vor allen Ausstellungsstücken stehen. Picassos, Dalís, Beckmanns, Corinths, Kiefers und so weiter. Die schönsten Bilder sind an meinen Augen vorbeigeflitzt. Aber richtig gesehen habe ich kein einziges Werk.

Alles geschafft, nichts erreicht. Ich glaube, das kommt öfters vor, als man denkt. Da werden Meetings ausführlich vorbereitet – und die Wirkung und Absicht? Sofern sich überhaupt noch jemand dafür interessiert: gegen null. Da werden Arbeitswochen und Projekte bis auf das letzte Zehntel durchgeplant – und man übersieht, dass sich die Dinge geändert haben. Am Ende sind alle ausgepowert, lustlos, frustriert. Tja. Alles geschafft, nichts erreicht.

Mehr als genug

Zum Glück habe ich die Kurve gekriegt und schenke alles hin. Jeden Picasso, jeden Dalí. Und wenn es das erste Bild am Eingang ist, an dem ich hängen bleibe. Wenn es das richtige ist, bleibe ich bei ihm. Mal ist es ein großes Gemälde, mal eine kleine Radierung. Diesem einen Bild schenke ich dann all meine Zeit und Aufmerksamkeit. Weil es mir etwas erzählt über mich. Warum spiegelt es meine momentane Situation wider? Warum bleibe ich ausgerechnet heute daran hängen? Ja, ich sage „hängen bleiben“, weil ich nichts mit meinem Kopf steuere, ich lasse mich berühren. Etwas passiert mit mir, innerlich, etwas zieht oder führt mich. Es ist so, als ob das Kunstwerk auf einen gewartet hätte. Und nicht auf irgendeinen, sondern auf mich. Weitergehen? Zwecklos. Das Kunstwerk hat mich in Beschlag, und das ist auch gut so. Ich lasse mich völlig auf die Beobachtung ein, denke nicht, werte nicht. Picasso, Dalí, völlig Banane. Das nenne ich heute Spannung: Angesprochen werden, dem Bild zuhören, auf sich hören. Offen sein für alles. Manchmal wundere ich mich dann, was da zurückkommt.

Mein Wort des Jahres

Ein Kunstwerk, nur eines – nicht mehr! Das bedeutet Erfüllung. Ich glaube, ein Prinzip erkannt zu haben: Wer es schafft, Dinge wegzulassen, der lebt erfüllter. Eben das habe ich mir in diesem Jahr zur Aufgabe gemacht und „Fülle“ zu meinem persönlichen Wort des Jahres gewählt. Aber wie kann ich mich in die Fülle setzen? Indem ich anderes weglasse, und kein lebloses „Füllmaterial“ zwischen mich und das packe, was mich gerade anspricht.

Als Asketin gehe ich jetzt in Ausstellungen, ich erlaube mir kaum ein Bild, verbiete es mir sogar und gebe mir den Auftrag: Entscheide dich für ein Kunstwerk, hör zu, welches dich anspricht, lass dich berühren, tauche ein, nehme dir Zeit für das Kunstwerk und für dich. Das macht für mich Genuss aus. Da ist auf einmal ein Gefühl von Fülle, der Moment ist erfüllt. Und ich weiß: Ich verpasse nichts, ich bin satt und zufrieden und ganz bei mir.

Jetzt kann ich nicht mehr still sitzen. Ich freue mich auf ein Kunstwerk. Auf eines. Eines, das mich gleich anspricht. 15 Minuten, eine kleine Ewigkeit, nur ich und dieses Kunstwerk. Mal sehen, was passiert.

 

Bis zum nächsten Blog wünsche ich allen viel Spaß beim Weglassen und beim Genießen der Fülle!